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Essay "Waldröschen"

Daten

TitelWaldröschen
AutorRolf Dernen

Zugeordnete Texte

Konkordanz dieser Texte

TitelUntertitelKurzbemerkung
Das Waldröschenoder Die Verfolgung rund um die ErdeFischer-Ausgabe
Das Waldröschen oder Die Verfolgung rund um die Erde Neusatz
Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde Erstsatz

Konkordanz dieser Texte

Das Waldröschen

Aus der Werkstatt eines Erfolgsschriftstellers III

"Waldröschen", welch seltsamer Titel für einen Roman von Karl May. Das klingt alles andere als abenteuerlich, wenn man an "Durch die Wüste" oder "Der Schatz im Silbersee" denkt. Spannender wird es dann schon beim Untertitel: "Die Rächerjagd" rund um die Erde. Großer Enthüllungsroman über die Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft", obwohl uns das wiederum etwas dick aufgetragen erscheint, besonders, wenn wir den pompösen Namen des Autors erfahren, nämlich 'Capitain Ramon Diaz de la Escosura'. Dieser ist natürlich ein Pseudonym, denn Karl May wollte nicht, dass sein Name im Zusammenhang mit einem Kolportageroman genannt wurde, und um nichts anderes handelt es sich beim "Waldröschen". "Kolportage" leitet sich aus den französischen Wörtern col = Hals, Nacken und porter = tragen her, ein Kolporteur ist jemand, der aus einer Art Bauchladen, der von einem Riemen um den Nacken des Trägers gehalten wird, Dinge des Alltags verkauft. In unserem Falle sind es Fortsetzungsromane in Einzelheften, auch 'Hintertreppenromane' genannt, weil der Kolporteur nur durch den Hintereingang gutbürgerlicher Häuser eingelassen wurde, um dort dem Personal Herz-, Schmerz- und Abenteuergeschichten zu verkaufen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ungefähr die Funktion der heutigen Fernsehserien um Liebe, Leidenschaft und Verbrechen besaßen.

Der Dresdner Verleger Heinrich Gotthold Münchmeyer war solch ein Kolporteur, bis er es nicht mehr nötig hatte, selbst durch die Lande zu ziehen sondern eine eigene Firma aufmachen konnte. Karl May war von 1875 bis 1877 Angestellter Münchmeyers, und zwar als Redakteur für verschiedene Zeitschriften. Man muss ihn im Hause des Verlegers geschätzt haben, denn zu Weihnachten 1875 schenkte ihm Münchmeyers Frau Pauline ein Klavier. Als aber die Wertschätzung zu weit ging - Pauline wollte May mit ihrer Schwester Minna verheiraten - verzichtete der Redakteur lieber auf die finanzielle Sicherheit dieser festen Anstellung und kündigte zum 31. März 1877, möglicherweise verlies er Münchmeyer schon Ende 1876 und beendete bis zu nächsten Frühjahr nur noch einige bereits begonnene Arbeiten. Abgesehen von einer kurzzeitigen Redakteurstätigkeit für einen anderen Dresdner Verlag (Bruno Radelli) arbeitete May nun als freier Schriftsteller und konnte ab 1879 bei der Zeitschrift "Deutscher Hausschatz" Erzählungen veröffentlichen wie "Der Ehri" oder "Der Girl-Robber", später aufgenommen in den Band "Am stillen Ocean", auch Wildwest- und Orient-Erzählungen Wir schreiben mittlerweile das Jahr 1880, Karl May ist 38 und heiratet am 17. August die 14 Jahre jüngere Emma Pollmer, die bereits vorher in Dresden zeitweise mit ihm zusammen gelebt hat. Das junge Paar wohnt nun im damals noch nicht mit Ernstthal vereinigten Nachbarstädtchen Hohenstein und kann von Mays "Hausschatz"-Erzählungen nebst in anderen Zeitschriften Veröffentlichtem einigermaßen leben. Im Januar des nächsten Jahres beginnt der Abdruck des Orientzyklus, der später unter den Buchtiteln "Durch die Wüste", "Durchs wilde Kurdistan" usw. zu den May-Bestsellern zählen wird. Bereits zu dieser Zeit wecken die in Ich-Form geschriebenen Abenteuer das Interesse an der Person des Autors, wie Leserbriefe an den "Hausschatz" beweisen.

Es ist nicht gerade ein aufregendes Leben in der Kleinstadt, daher wird die unternehmungslustige Emma den Urlaub im Spätsommer 1882, der das Paar nach Dresden führt, besonders genossen haben. Und in Dresden trifft man in einem Restaurant auf Mays ehemaligen Arbeitgeber Münchmeyer, der angesichts des Paares "strahlte vor Vergnügen", wie May in seiner Autobiographie schreibt. Sein Verlag gehe überhaupt nicht mehr gut, klagt Münchmeyer, aber May könnte mit einem Roman der Retter sein. Gemeint ist ein Kolportageroman, was May eigentlich garnicht ins Konzept passt, da er im "Hausschatz" für das gehobene Bürgertum schreibt und Angst um seine guten Namen hat, wenn er sich in die "Niederungen" der Kolportage herablässt. Kein Problem, er könne unter Pseudonym schreiben, kontert Münchmeyer. Emma, die von Müchmeyers großstädtischem Habitus eingenommen ist, unterstützt die Bitte des Verlegers, und endlich schlägt May ein. Ein schriftlicher Vertrag wird nicht geschlossen. 100 Lieferungshefte von 24 Seiten mit 35 Mark Autorenhonorar pro Heft werden abgemacht. Die Auflage soll 20.000 Exemplare betragen, danach gehen die Rechte an May zurück. Von einer "feinen Gratifikation" ist auch die Rede; 500 Mark zahlt Münchmeyer als Vorschuss und darf sich den Romantitel aussuchen, da ist May ganz Profi. Aus welchem Grund auch immer, Münchmeyer entscheidet sich für "Das Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde". Wenig später ersetzt man "Rächerjagd" durch "Verfolgungsjagd". Das bombastische Pseudonym "Capitain Ramon Diaz de la Escosura" ist übrigens recht geschickt gewählt, denn es gab von 1872 bis 1874 einen spanischen Gesandten beim Deutschen Reich in Berlin mit Namen Don Patricio de la Escosura, ein Mann, der sich nicht nur als Politiker, sondern auch als Schriftsteller, Übersetzer und Redakteur einen Namen gemacht hatte.

Am 14. Oktober 1882 ist die erste Lieferung des Romans gedruckt, aber May hat Probleme, die Abliefertermine einzuhalten. Allzu groß ist der Druck, der auf ihm lastet, er hat kaum Zeit für eine Schreibpause, denn selbstverständlich bestehen auch noch Verpflichtungen dem "Hausschatz" gegenüber. So schreibt er Tage und Nächte durch und muss im März 1883 den Orientzyklus abbrechen, weil die Abenteuer des Doktor Sternau einfach zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Dieser famose Arzt (ein Traumberuf von May, außerdem sind Ärzte bis heute immer gut für Trivialgeschichten) ist so etwas wie ein früher Shatterhand, May bewaffnet ihn sogar mit Henrystutzen und Bärentöter.

Das Honorar befähigt die Mays dazu, nach Dresden zu ziehen, wo Münchmeyer, ganz Kavalier, gerne zu Besuch ist und Emma seine Aufwartung macht. Auch mit Pauline Münchmeyer freundet sich Emma an. May sitzt derweil an seinem Schreibtisch und erfindet die unglaublichsten Abenteuer, Romanzen, Entführungen, schreibt von vertauschten Grafenkindern, Zigeunern, Oberförstern, Indianern, Trappern, deutschen Leutnants und mexikanischen Revolutionären und lässt mittendrin einen Piraten die meisten Hauptpersonen 16 Jahre auf eine einsame Insel aussetzen, damit die nächste Generation heranwachsen kann, darunter auch Sternaus Tochter, die allgemein "Waldröschen" genannt wird. Wer die früheste Fassung des Romans heute liest, spürt die Atemlosigkeit, in der das alles heruntergeschrieben ist, wundert sich über Personen, die als bekannt vorausgesetzt werden, früher aber nie aufgetaucht sind (zum Beispiel Quimbo), entdeckt Konstruktionsfehler wie alte Freunde, die sich nach fünfzig Seiten plötzlich nicht kennen, findet aber auch die typische Karl-May-Romantik der "klassischen" Reiseerzählungen. Die Sternau/Old Shatterhand-Ähnlichkeit wurde schon erwähnt, daneben zeigen Indianer wie Bärenherz einige Winnetou-Eigenschaften.

Der Roman verkauft sich bestens, wird von 100 auf 109 Lieferungen ausgedehnt, ist nach Auslieferung des letzten Heftes 2.612 Seiten stark, aber May hat nie Zeit und Gelegenheit, Korrektur oder Revision zu lesen, er vertraut darauf, dass an seinem Wortlaut nichts geändert wird. Münchmeyer macht May auch keine Mitteilung, als die vereinbarten 20.000 Exemplare erreicht und somit die Rechte am Roman an den Autor zurückgefallen sind. Zu diesem Zeitpunkt hat das "Waldröschen" einen Bruttoumsatz von 218.000 Mark erwirtschaftet, May erhält gerademal 3.815 Mark, das sind weniger als zwei Prozent des Verkaufspreises. Trotz alledem schreibt May für Münchmeyer noch vier Romane ("Der verlorne Sohn", "Die Liebe des Ulanen", "Deutsche Herzen, deutsche Helden", "Der Weg zum Glück"), ein weiterer mit dem Titel "Delilah" kommt nicht mehr zur Ausführung. Dem Autor bleibt keine Zeit, die Romane nacheinander zu schreiben, er arbeitet meist an zwei gleichzeitig. Ein weiterer Beweis für seine Arbeitsüberlastung.

Im Sommer 1887 ist Mays Kolportagezeit vorbei. Er hat neben dem "Hausschatz" ein weiteres Forum gefunden, nämlich die Jugendzeitschrift "Der gute Kamerad", in der er mit "Der Sohn des Bärenjägers" seinen ersten Jugendroman veröffentlichen kann. Weitere wie "Der Schatz im Silbersee", "Die Sklavenkarawane" oder "Der Ölprinz" folgen, und ab 1892 sorgt der Freiburger Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld dafür, dass Mays Reiseerzählungen in den für ihn konzipierten grünen Bänden erscheinen.

Die Kolportagezeit liegt lange zurück, May wird zum vielumschwärmten Autor äußerst erfolgreicher Reiseerzählungen, aber 1894 greift er auf das "Waldröschen" zurück: es gilt, den zweiten Band "Old Surehand" möglichst schnell fertigzustellen und May füllt diesen, wie schon bei dem zweiten und dritten Band "Winnetou", mit bearbeiteten früheren Texten. Dass er unter anderem eine "Waldröschen"-Episode, nämlich die um den altmexikanischen Königsschatz in "Old Surehand II" einbaut, liegt vielleicht auch daran, dass er seinen Besitzanspruch demonstrieren möchte. Sicherlich war die Vereinbarung bezüglich der Autorenrechte am "Waldröschen" längst erfüllt; auf jeden Fall gibt es vom Münchmeyer-Verlag keine Proteste gegen die Neuverwendung dieses Kapitels. Münchmeyer selbst ist 1892 gestorben, seine Frau Pauline führt den Verlag erst selbst weiter, verkauft dann aber 1899 an Adalbert Fischer. (Näheres zu "Old Surehand" in KARL MAY & CO. Nr. 88)

Das weitere Schicksal des "Waldröschen" ist das gleiche wie das der anderen Münchmeyerromane, ein Thema, das in seiner Vielseitigkeit den Rahmen dieser Ausführungen sprengen würde; daher das Folgende in aller Kürze: May untersagt Fischer, die Romane erneut auf den Buchmarkt zu bringen, Fischer aber gibt umunwunden zu, dass er den Verlag eben gerade wegen "Waldröschen" & Co. erworben habe und gibt die Romane unter Mays Namen heraus . Ein langwieriger Rechtsstreit ist die an und schließlich (1907) erreicht May, dass die Romane ohne Verfasserangabe erscheinen. Zu spät, denn der Schaden ist nicht wieder gut zu machen. Die Wiederherausgabe dieser angeblich so schlüpfrigen Romane schädigen Mays Image gewaltig, er wird als Pornograph beschimpft, obwohl er behauptet, anstößige Szenen seien damals von Münchmeyer in die Romane hineingeschmuggelt worden.

Nach Mays Tod gelang es dem neugegründeten Karl-May-Verlag (KMV), die Rechte für das "Waldröschen" und die anderen Münchmeyerromane zu erhalten, und ab 1924 erschien das "Waldröschen" im Rahmen der Gesammelten Werke. Umfassende Bearbeitungen schienen dem Verlag notwendig, der Verlagsleiter Euchar Albrecht Schmid schrieb dazu: "Der einstige Titel, der nicht von Karl May selbst, sondern von Münchmeyer stammte und mit dem Gang der Handlung überhaupt nichts zu tun hat, mußte fallen. Ebenso haben wir das Werk von allem fremden und überflüssigen Beiwerk befreit." Die Bearbeitung ergab fünf Bände, nämlich "Schloß Rodriganda", "Die Pyramide des Sonnengottes" (zu Anfang noch unter dem Titel "Vom Rhein zur Mapimi"), "Benito Juarez", "Trapper Geierschnabel" und "Der sterbende Kaiser". 1995 erschien mit dem Band "Die Kinder des Herzogs" im KMV eine in den Zwanzigerjahren unter den Tisch gefallene "Waldröschen"-Episode in - wie es im Nachwort heißt - "vorsichtiger Bearbeitung" dieses ehemals "überflüssigen Beiwerks".

Mays erster Kolportageroman ist sein erfolgreichster geworden. Auch heute noch findet er - in den verschiedensten Fassungen - seine Leser, allerdings längst nicht so viele wie die "klassischen" Reise- und Jugenderzählungen. Immerhin wurde 1977 in Hannover ein Bühnenstück nach dem "Waldröschen"-Stoff uraufgeführt, ein "melodramatischer Bilderbogen", dessen Text nah am Original bleibt, aber trotzdem - oder gerade deshalb - streckenweise sehr komisch ist.

Mays "Waldröschen"-Manuskript ist längst verschollen, es wurde wahrscheinlich branchenüblich nach dem Absetzen vernichtet. Wer heute den Text in der Fassung des Erstdrucks lesen möchte, muss die inzwischen leider vergriffenen, aber antiquarisch durchaus noch zu erhaltenden Reprints der Edition Leipzig oder der Olms-Presse zur Hand nehmen. Derzeit ohne weiteres erhältlich ist das "Waldröschen" noch im Wortlaut seiner frühesten gedruckten Fassung im Rahmen der historisch-kritischen Karl-May-Ausgabe des Bücherhauses Bargfeld.

Rolf Dernen

Dieser Beitrag stammt mit freundlicher Genehmigung des Autoren und der Redaktion aus "Karl May & Co.", dem Karl-May-Magazin.