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Band-Rezensionen

Band: KARL-MAY-CHRONIK

Verlag: Karl-May-Verlag Bamberg · Radebeul
Reihe: SONDERBAND ZU DEN GESAMMELTEN WERKEN KARL MAY's

Eintrag von Rüdiger (vom 21.9.2005)

Dieser zweite Band berichtet über die Jahre 1897 bis 1901 und enthält nach meinem Empfinden drei Themen-Schwerpunkte: die Orientreise, die seltsame Beziehung zu Marie Hannes, schließlich als besonderen Höhepunkt am Ende des Bandes mit der Veröffentlichung von Korrespondenz in Sachen „Et in terra pax“ Einblicke in Verleger-Welten.

Was die Orient-Reise angeht, habe ich nach der Lektüre der „Chronik“ erstmals nicht mehr den Eindruck, Karl May sei als ein Verwandelter von ihr zurückgekehrt. Er sagt das zwar, und alle schreiben es bis heute so nach, aber zum Teil sind das doch Lippenbekenntnisse. Und die Veränderung im Werk hat eher etwas mit der Frankfurter Zeitung u.dgl. zu tun als mit der eigentlichen Reise. – Etwas eigenartig finde ich, dass seitenweise Texte zitiert werden, die man schon in Band 82 der Gesammelten Werke vom gleichen Verlag nachlesen kann. Hält doppelt besser ?

Sehr interessant der Brief auf S. 432 f. an Marie Hannes. Der zeugt denn doch von Einsicht und Verantwortungsgefühl. - Wer sich mit der seltsamen, ebenso teils bewegenden wie bizarren Geschichte mit Marie Hannes noch eingehender beschäftigen möchte, sei auf das Buch „Leben im Schatten des Lichts“ hingewiesen, in dem es um Karl May und Marie Hannes geht.

Das Kirchen-Gleichnis auf S. 450 mag man auch heute noch so manchem hinter den Spiegel stecken, auch die Stelle auf S. 473 mit den „Patienten“ ist in dieser Hinsicht nicht übel.

Und die Sache mit Kürschner und Ziegler am Ende des Bandes hat bei mir zu allergrößter Erheiterung geführt. Wenn Karl May deren Korrespondenz hätte lesen können ! Aber ich vermute, dass er über genügend Menschen- und Selbsterkenntnis sowie –ironie verfügte, um sich auch so denken zu können, was hinter seinem Rücken so über ihn geredet wird …


Eintrag von Gastbeitrag (vom 11.12.2005)

Andreas Graf

Großer Wurf mit kleinen Schönheitsfehlern ? Sudhoffs und Steinmetz? Karl-May-Chronik im KMV

?Ich bin doch keine Chronometeruhr und schreibe nicht Kalendarien sondern Novellen. Es kann mir Niemand verbieten, heut Etwas zu beschreiben, was vor zwei Monaten passirte, und in fünf Jahren Etwas, was vor zehn Jahren geschah!?
(May an Fehsenfeld am 26. November 1893; I 467f.)


Begeistertes Lob

Man muss schon einige Schritte auf dem Zeitstrang zurückgehen, um auf für die Forschung um Karl May ähnlich bedeutsame Projekte zu stoßen wie die hier anzuzeigende Chronik. Diese ist auf fünf (bzw. mit Ergänzungsband sogar sechs) Bände von zusammen etwa 3000 Seiten angelegt ist und soll im kommenden Frühjahr bereits abgeschlossen vorliegen. Dieses wahrhaft ?titanische? Unternehmen - wie es May selbst vielleicht formuliert hätte ? fordert zu großen Vergleichen heraus. Ich scheue mich nicht, ihre erforschende und beschreibende Einzigartigkeit mit Wollschlägers Biographie auf eine Stufe zu stellen und ihre funkelnde Widersprüchlichkeit mit Arno Schmidts Sitara-Buch, ihre pionierhafte Bedeutsamkeit mit der Gründung der Karl-May-Gesellschaft, ihren grundlegenden Faktenreichtum mit der Biographie-Edition Plauls sowie dessen Bibliographie, ihre kollektive Fruchtbarkeit mit Uedings Handbuch, ihre enzyklopädische Fülle mit der Historisch-Kritischen Ausgabe, ihre biographische Authentizität mit der Rückführung von Mays Bücherei nach Radebeul und ihre KMV-generierte Wichtigkeit mit den Fehsenfeld-Reprinten von Roland Schmid. Mit anderen Worten: Hier liegt nichts weniger als ein wissenschaftlicher Meilenstein der Karl-May-Forschung vor, der zugleich im weiteren und allgemeinen literaturgeschichtlichen Umfeld seines Gleichen sucht.

Natürlich hat die Edition auch kleinere Schwächen, auf die hingewiesen werden soll. Doch zunächst soll hier dem Lob und der Begeisterung Raum gegeben werden, die dieses Unternehmen verdient und erregt. Dieter Sudhoff, der die Textfassung der Chronik allein zu verantworten hat (weshalb ihm wohl auf dem Titel, entgegen dem Alphabet, der Vortritt gelassen wird), und H.-D. Steinmetz, beide seit langem in der Forschung um Karl May bekannt und geschätzt, haben ihr opus magnum vorgelegt. Die Karl-May-Chronik ist eines der wichtigsten und gewichtigsten Werke der gesamten May-Philologie; für die kommenden dreissig Jahre sollte jeder diese Bände in seinen Bücherschrank platzieren, der sich als Fan, Forscher oder Ferächter mit dem Radebeuler Langstreckenflunkerer und -mythologen beschäftigt. Ein Meilenstein, wie gesagt, der nicht nur ? wie es Aufgabe solcher Streckenweiser ist - den noch zu bewältigenden Weg anzeigt, sondern der zugleich den langen, bereits fruchtbar und erfolgreich zurückgelegten belegt.


Gelungene Form

Das Gestaltungsprinzip scheint simpel: Sämtliche (vor allem biographischen) Fakten sammeln und in chronologischer Folge darbieten. Dabei herausgekommen ist jedoch weitaus mehr als ein wildes Sammelsurium heterogenster Informationen, denn die Autoren bieten in Wahrheit eine umfangreiche, knapp kommentierende Quellensammlung zur Biographie Karl Mays, wie sie jeder, der ein wenig ausführlicher in das Leben des Autors einsteigen will, sich nur nur wünschen kann. Endlich werden die vom Einzelnen längst kaum noch überschaubaren Informationen und Informationshäppchen, die von der KMG und anderen in den vergangenen Jahrzehnten seit 1963 zusammengetragen wurden, in einem einzigen Werk knapp und konzis, dennoch mit wünschenswerter Ausführlichkeit vereinigt, aufbereitet und teils kommentiert. Endlich kann man nebeneinander lesen, was (beinahe) gleichzeitig geschah; endlich kann umfassend erlesen werden, was mit May wann, wo und warum geschehen ist.

Der Zeitraum, den die vorliegenden Bände abdecken, ist selbstverständlich sehr unterschiedlich, da ja für die frühen Zeiträume nur wenig Faktisches bekannt ist. So reicht Bd. 1 von der Kindheit Mays bis zur Entstehung der OS-Legende, umfasst also 54 Jahre, während Bd. 2 u.a. die erste (30-72) und zweite (111-135) große Renommierreise Mays in den Jahren 1897 und 1898 beschreibt sowie ausführlichst die sog. ?Orientreise? (205-396) der Jahre 1899 und 1900 (die ja über weite Strecken eher eine Mittelmeerreise gewesen ist) und insgesamt nur fünf Jahre umfasst. Die Informationsdichte ist dabei naturgemäß äußerst unterschiedlich, sie reicht von der detaillierten Bekanntgabe der täglich verzehrten Mahlzeiten (während des dreiwöchigen Arrestes nach dem Stollberger Urteil) bis zum erschütternd knappen Eintrag für das gesamte Jahr 1866: Dieser besteht aus sieben Zeilen, von denen sich fünf auf allgemeine politische Daten beziehen und nur zwei auf May direkt (Haft in Zwickau, 24. Geburtstag).


Endlich Nachlassmaterial!

Eine Besonderheit der Chronik besteht darin, dass sie nicht nur das bislang publizierte Material zu Karl May vollständig auswertet. Sie präsentiert darüber hinaus eigene, in zahlreichen Archiven erhobene Daten sowie, als wichtigstes Novum, zahlreiche neue Fakten aus dem Nachlass Mays, der zudem in teils ausführlichen Zitaten in die Dokumentation der Chronik eingeflossen ist. Ein ebenso einfacher wie weittragender Satz im Vorwort stellt die Bedeutsamkeit heraus: ?Mays Nachlass konnte bei regelmäßigen Arbeitsaufenthalten in Bamberg nahezu vollständig erschlossen und für die Chronik ausgewertet werden? schreibt Sudhoff knapp und in verständlichem Stolz (I 17). Zwar hätte man, zumal als selbst Forschender, dieses ?nahezu? gerne etwas genauer erläutert bekommen; aber der Rest der Aussage ist für die May-Forschung schlicht eine Sensation.

Der Neuigkeiten sind tatsächlich viele, sie sind insgesamt so zahlreich, dass hier nur summarisch darauf hingewiesen werden kann. Erstmals ausgewertet wurden die diversen Verlags- bzw. Verlegerbriefwechsel, die Briefe von und an Verehrer Mays sowie zahlreiche Dokumente aus der Verwandtschaft. Als namhaftester ist der Briefwechsel mit Fehsenfeld zu nennen, aus dem zwar manches schon Roland Schmid in den Nachworten zum Fehsenfeld-Reprint veröffentlicht hat, doch die Neuigkeiten sind dennoch zahllos. Beispielsweise kann man jetzt erfahren, dass May bei der Union im ?Buch für Alle? den Autor Möllhausen ersetzen sollte (I 467) ? was ganz nebenbei die Bedeutung des Autors Möllhausen für May erneut bestätigt. Auch die Briefwechsel mit den diversen katholischen Marienkalender-verlagen, die Herbert Meier für seinen verdientvollen Reprint im Jahr 1979 leider nicht vorlagen, sind nun ausgewertet, außerdem die Anfragen zahlreicher Verlage, die bis dato noch nicht mit May in Zusammenhang gebracht werden konnten (etwa auch der Gerstäcker- und Möllhausen-Verleger Costenoble, I 515). Darüber hinaus gibt es teils ausführliche Referenzen und/oder Zitate aus Anfragen von oder Briefen Mays an die Verleger Thiemann (Hamm), Slottko (von der Agentur Löwenstein), Bachem (Köln), Hoffmann/Thienemann (Stuttgart), einzelne Briefe Münchmeyers (I 335), Keiters (Hausschatz), Mays an A. Schießer (wg. Fotos), Benziger (Einsiedeln) usw.

Ein weiterer wichtiger Dokumentenkomplex, der erstmals ausgewertet werden konnte, sind Briefe an Klara May, etwa von Verwandten Mays wie seiner Schwester Klara Selbmann, die sich beispielsweise über dessen Kindheit äußert, über seine Beziehung zur Großmutter und über den Charakter der Mutter Mays: Diese erscheint durch die Schilderungen der Schwester in einem harten, teils geradezu widerwärtigen Licht (Die Mutter zwang die eigene Tochter, einen zwanzig Jahre älteren Mann, den Hausbesitzer!, zu heiraten und sich um dessen fünf mutterlose Kinder zu kümmern ? offenbar, damit die gesamte Familie abgesichert war und im Hause wohnen bleiben konnte.) Durch solche Dokumente wird den idealisierenden Schilderungen Karl Mays eine akzentuiert andere Sichtweise entgegengesetzt, die ihrerseits wiederum die emotionale Bedürftigkeit des jungen Karl umso klarer macht. Auch die Episode, als May 1891/92 seine 9jährige Nichte Clara an Kindesstatt annehmen wollte, was aber von Emma auf perfide Weise sabotiert wurde, erscheint durch solche Dokumente erstmals in deutlicherem Licht (I 408-414, 431-439), desgleichen Mays Arbeit an seiner Winnetou-Oper in den Jahren ab 1893. Auch seine Kontakte zu der Diakonisse Sophie Meyer (1876; I 218f.), zur Seiltänzertruppe Kolter (1878; I 243) und der Übersetzerin Juliette Charoy, die für ?Le Monde? zahlreiche seiner Werke Mays übersetzte, sowie die Anfrage des 15-jährigen Friedrich von Gagern an May waren bislang weitgehend unbekannt. Ausgewertet wurden nun endlich auch die Recherchen von Ludwig Patsch, der in den 30er und 40er Jahren teils noch Dokumente einsehen konnte, die mittlerweile vernichtet sind.

Neben dem Nachlass bietet die Chronik auch andere Neuigkeiten, nämlich die Ergebnisse eigener Recherchen der Herausgeber, die durch Klammerverweise auf entsprechende Archive dokumentiert werden. Ein biographischer Komplex, der auf diese Weise ziemlich neu erschlossen wird, ist die Volksschulzeit Mays (1848-1856). Sie wird jetzt, aufgrund eingehender Archivrecherchen der Chronik-Autoren, deutlicher fassbar (I 39-62). Überraschendes bietet darüber hinaus die Verzahnung zwar grundsätzlich bekannter, aber bislang wenig gewürdigter oder im Zusammenhang gesehener Ereignisse, etwa die Anschaffung von Hunden (I 295), die häufigen Wirtshausbesuche Mays u.ä.


Von Äpfeln und Birnen

Eine kritische Würdigung der Karl-May-Chronik kommt leider nicht umhin, auch deren Mängel zu benennen. Diese liegen teils in der Konzeption des Ganzen, mehr jedoch in einzelnen Ausführungen Sudhoffs im Vorwort zum ersten Band. ?Objektivität? ist dort das wiederholt gebrauchte Stichwort, das die Tätigkeit der Herausgeber beschreiben und legitimieren soll. Beispielsweise meint Sudhoff allen Ernstes, ?Objektivität der Darstellung? sei eine ?unabdingbare Notwendigkeit jeder Biographie? (I 14), und diese könne nur erreicht werden, wenn der Biograph ?keinerlei subjektive Interessen? verfolge und sich möglichst ?jeder wertenden Interpretation? enthalte. Das mag zwar ziemlich treffend die Absichten der Herausgeber kennzeichnen; so formuliert, ist es jedoch für den literarischen wie den biographischen Bereich eine Behauptung, die unzutreffender nicht sein könnte! Natürlich bezieht sich Sudhoff bei diesem Statement nicht wirklich auf eine literarische Biographie, sondern er meint seine Chronik und beschreibt mithin, welche Kriterien für ihn selbst bei deren Konzeption maßgeben waren. Er spricht also eigentlich pro domo und nicht contra biografiae.

Nun sind jedoch Biographie und Chronik zwei völlig unterschiedliche literarische Gattungen: Auch die umfangreichste und detaillierteste Chronik wird eine kluge, gut geschriebene Biographie nicht ersetzen können, welche sich der Anstrengung unterzieht, ein Leben, einen Autor und sein Werk zu deuten und in einen zeit- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Niemand kann etwa ernsthaft glauben, Golo Manns Wallenstein-Biographie, Harpprechts Thomas-Mann-Biographie, Friedenthals Goethe-Biographie oder Macks Stifter-Biographie - um nur wenige herausragende Beispiele zu nennen - wären durch noch so exakte Chroniken zu ersetzen. Ebensowenig haben Chroniken, wie sie zu einigen anderen Autoren ja in unterschiedlicher Ausführlichkeit existieren (etwa zu Goethe oder Fontane), verhindern können, dass sich immer wieder auch beschreibende und erzählende Biographien mit Ernsthaftigkeit dieser Gestalten angenommen haben. Vielleicht ist es sogar so, dass eine Chronik erst eine ernsthafte Biographie ermöglicht. Denn eine Biographie unternimmt im Angesicht aller bekannten Fakten eine Deutungsanstrengung, die durch keine andere Textsorte zu ersetzen ist. Eine Chronik dagegen ist eine um Objektivität bemühte Faktensammlung, die sich an der chronologischen Zeitfolge orientiert und Deutungen nur zwischen den Zeilen zulässt. Wer also Chronik und Biographie gegeneinander stellt, der vergleicht Äpfel mit Birnen - was bekanntermaßen unsinnig ist.


Fakten und Fiktionen

Hinzu kommt ein Weiteres. Sudhoffs und Steinmetz? Werk will ja ?Biographie, Chronik und Dokumentation zugleich? (I 15) sein und ist dies tatsächlich auch. Da erhebt sich natürlich unversehens bei so mancher Passage die Frage der ?Objektivität? ? nämlich etwa an jenen nicht seltenen Stellen, die seitenlang aus Darstellungen Mays (etwa der Pollmer-Studie) zitieren, ohne dass dieser manchmal extrem einseitigen Sichtweise unseres Helden eine andere korrigierend gegenüber gestellt werden könnte ? weil nämlich keine anderen Dokumente erhalten sind. Eine ?Gegenüberstellung von Faktum und Aussage? ist an solchen Stellen gar nicht möglich. Dieses Problem ergibt sich beispielsweise auch für die Frühzeit Mays, wenn die Herausgeber mangels sonstiger Dokumente vorzugsweise auf die Selbstdarstellungen in ?Mein Leben und Streben? zurückgreifen müssen. Hier und andernorts werden grundsätzliche Schwierigkeiten der Gattung Chronik deutlich, die Sudhoff/Steinmetz allerdings auffangen, indem sie diese, wie gesagt, zur Dokumentation ausweiten.

Ein Beispiel: Sie verzeichnen für den 20. März 1856, vier Tage nach Mays Konfirmation, dessen erste Teilnahme am Abendmahl. In dem an gleicher Stelle dokumentierten Auszug aus LuS werden jedoch mindestens zwei weitere Fakten überliefert, denen die Chronik nicht nachgeht bzw. nachgehen kann und die entsprechend unkommentiert bleiben. Erstens berichtet May darin, dass er bereits vor 1856 am Abendmahl teilgenommen hat, ohne bereits ?eingesegnet? zu sein, und zweitens erzählt er von seiner bereits mehrjährigen Mitgliedschaft in der Kurrende, dem örtlichen Schülerchor: Beides ist naturgemäß nicht in der Chronik mit gehörigem Datum ? etwa 1854 ? verzeichnet (gleichwohl müsste sich vermutlich mindestens die Kurrendemitgliedschaft irgendwie archivalisch recherchieren lassen...). Das heißt: Auf ?Fakten?, die sich der rein chronikalischen Verzeichnung verweigern, wird durch dokumentarische Langzitate dennoch hingewiesen. Abweichend davon wird in Einzelfällen die Verzeichnung für die Frühzeit vermieden und später nachgeholt, eine Inkonsequenz, die durch die Unklarheit der spezifischen Gesamtlage nicht wirklich gerechtfertigt scheint. May lernte beispielsweise während seiner Haft in Osterstein den späteren Dresdener Redakteur Max Dittrich kennen, der dort von 1866 bis1868 ebenfalls einsaß ? warum wird dies nicht für 1866, sondern erst unterm Jahr 1889 verzeichnet, als die beiden sich erneut begegneten?

Andererseits verzeichnet die Chronik auch ?Fakten?, die möglicherweise reine Fiktion sind ? ebenso wiederum aus dem Grund, dass dafür außer Mays Selbstzeugnis keinerlei Belege vorliegen. Beispiele sind etwa der angebliche Fluchtversuch des 13jährigen nach Spanien (I 62) oder die behauptete Übersendung einer Indianergeschichte an die Redaktion der ?Gartenlaube? durch den 16jährigen Karl May mit dem angeblichen Antwortbrief des Herausgebers Keil, ?vier große Quartseiten lang?. Beides wird als Faktum verzeichnet, ohne dass auf die mehr als hohe Fragwürdigkeit dieser ?Ereignisse? ? die doch sehr an literarische Fiktionen erinnern, wie sie in so mancher anderen Autorenbiographie der Zeit ebenfalls zu finden sind ? hingewiesen würde. Gleichzeitig führt dieses Zitieren von Mays Selbstdarstellung in einigen Fällen zu merkwürdigen Doppelungen ohne tatsächlichen Mehrwert, etwa wenn auf ein und derselben Seite zunächst Mays Darstellung über Münchmeyer als Hausfreund (LuS) zitiert und gleich darauf ebendiese Aussagen nochmals als ?Fakten? von den Herausgebern paraphrasiert werden - ohne dass es weiterführende Dokumente gäbe, die Mays Darstellung veri- oder falsifizierten (I 293). Hier besteht die Gefahr, dass per Zirkelschluss ?Fakten? ohne reale Basis geschaffen werden.


Absurdes Theater

Der fragwürdigste und ärgerlichste Aspekt von Sudhoffs Vorwort muss hier noch erwähnt werden. Denn die eine oder andere Formulierung dort ist keinesfalls den Geboten der selbst beschworenen Objektivität verpflichtet. Vielmehr sind Sudhoff passagenweise offenbar die Loyalität dem Karl-May-Verlag und die rigorose Wahrung der eigenen wissenschaftlichen Interessen - exklusiver Zugang zum Nachlassmaterial um weiterer Editionen Willen:
angekündigt werden im Vorwort für ?demnächst? eine zweibändige Edition des Fehsenfeld-Briefwechsels sowie eine Auswahlausgabe der zahlreichen Leserbriefe an May - wichtiger als sachliche Korrektheit. Das kann man sogar ein Stück weit verstehen; kritische Anmerkungen müssen dennoch erlaubt sein. Beispielsweise schreibt Sudhoff, es fehle bis heute eine zuverlässige Ausgabe der Briefe Mays, ?obwohl? (I 9) im Nachlass des Autors große Teile der Korrespondenz mit Verlegern, Freunden und Lesern überliefert seien. Eine solche Formulierung verdreht schlicht die Tatsachen! Korrekterweise müsste hier anstelle des ?obwohl? ein ?weil? stehen ? das kann praktisch jedermann bestätigen, der in den vergangenen dreissig Jahren versucht hat, in den exklusiven Kreis der Zugangsberechtigten zum KM-Nachlass vorzustoßen. Zwar wurden einzelne Briefe tatsächlich gelegentlich zur Verfügung gestellt, Editionswünsche dagegen stets abschlägig beschieden! Welchen Sinn also hätte eine Briefedition gehabt, ohne die zu Recht als besonders bedeutsam apostrophierten Nachlassbestände? Hier wird absurdes Theater gespielt und Nebelkerzen geworfen - auf Kosten früherer, weniger privilegierter Forschergenerationen.

Die zitierte Formulierung ließe sich aber noch als Marginalie auffassen, nutzte Sudhoff nicht im weiteren diese Argumentation zu einer höchst fragwürdigen und unfairen Abrechung, und zwar mit Wohlgschafts May-Biographie. Ich schicke voraus: Ich bin selbst kein großer Freund der Wohlgschaft-Biographie. Diese aber mit scharfen Worten als ?fahrlässig? (I 13) zu bezeichnen, weil sie in Unkenntnis des unveröffentlichten Nachlasses Mays geschrieben sei, halte ich für völlig unangemessen.Wohlgschaft stützt sich, wie mittlerweile jeder weiß, in erster Linie auf die publizierten Forschungsergebnisse, zumal der KMG. Dass diese (und damit seine) Ergebnisse zum Teil eine unfreiwillige Schlagseite haben mögen, weil die Verfasser eben keinen Zugang zum beim KMV bzw. dessen wechselnden und verfehdeten Besitzern sekretierten Nachlass erhalten hatten, kann man ihnen oder Wohlgschaft schlechterdings nicht anrechnen. Hinzu kommt: Die Biographie Wohlgschafts (deren zweite, wesentlich erweiterte bzw. veränderte Auflage übrigens bei Abfassung der Sudhoff-Invektive überhaupt noch nicht erschienen war!) berücksichtigt sehr wohl wichtige Teile des Nachlasses. Wohlgschaft hat sich ? wie jedermann nachlesen kann (www.karl-may-stiftung... bitte ergänzen) ? durchaus um eine Zitiererlaubnis beim KMV bemüht! Dieser hat jedoch abgelehnt und gleichzeitig mit den seit 40 Jahren sattsam bekannten juristischen Knütteln gedroht. Solches nun Wohlgschaft zum Vorwurf zu machen, ist gelinde gesagt absurd! Wer Wohlgschaft ob vermeintlicher Ignoranz kritisiert, schlägt also den Sack statt den Esel.
Dass sich ausgerechnet der sonst zurückhaltende Dieter Sudhoff solchermaßen Unzutreffendes offenbar von der KMV-Leitung soufflieren ließ, bleibt merkwürdig.


Kleinere Mängel

Doch nun zum zurück zum Inhaltlichen. Eine leichte konzeptionelle Schieflage der Chronik hängt damit zusammen, dass die Verfasser ein wenig zu sehr den eigenen Formulierungen vertraut haben. Im löblichen Bemühen um ?Objektivität? verlieren sie praktisch sämtliche Felder aus dem Blick, an die sich ein Diskurs über May anschließen lässt bzw. deren Kenntnis diesen erst verständlich macht. Ob Medien-, Kultur- oder Sozialgeschichts-, Trivial- oder Jugendliteraturforschung, ob klassischer Abenteuerroman, Leihbibliotheks-, Buchmarkt- oder Kolportageromanforschung usw.: Für praktisch keinen dieser Bereiche finden sich Rahmendaten, die entsprechende Befunde zum Leben und Streben Mays einordnen helfen. Das könnte man angesichts des Umfangs, den die Edition ohnehin schon hat, noch akzeptieren, würden nicht andererseits immer wieder politische Daten eingestreut - z.B. die Tode der deutschen Kaiser, die Reichsgründung, Demisson Bismarcks usw., Einzelheiten der sächsischen Geschichte ?, ohne dass deren Bedeutung für Karl May sichtbar würde. Und warum wird das Sterbedatum Nietzsches geliefert, nicht aber das Gerstäckers? Hierin werden Schwerpunktsetzungen sichtbar, nicht nicht unmittelbar überzeugen können.

Inkonsequenzen in der Verzeichnung erstrecken sich auch auf die Auswertung und Gewichtung der Forschungsliteratur. Warum etwa wird auf einen Beitrag in der ?Gartenlaube? hingewiesen, der May zur Figur des Krüger Bei angeregt hat, nicht aber auf zahlreiche andere, ebenso deutlich namhaft zu machende Quellen Mays (etwa zur Gestaltung der Nscho-tschi, der Beschreibung San Franziskos, der Silberbüchse, Winnetous usw.)? Und warum fehlen, um dieses Beispiel etwas ausführlicher zu behandeln, sämtliche Angaben zum Kolportageromanwesen, obwohl dieses, wie bekannt, engstens mit dem Wirken Karl Mays verknüpft ist? Einige Beispiele für mögliche relevante Einträge:
- Im Jahr 1882 erschien bei Adolph Wolf (Dresden), der in den Jahren zuvor auch einige May-Texte publiziert hatte, der Kolportageroman ?Feindliche Mächte oder das verstoßene Soldatenkind aus Indien?, verfasst von einem gewissen Dr. C. Sternau (!) ? exakt so, nämlich Dr. Carl Sternau, hieß bekanntlich der strahlende oldshatterhandeske Held des im gleichen Jahr bei Münchmeyer erscheinenden May-Romans ?Das Waldröschen usw.?!
- Bei Münchmeyer erschien zwei Jahre später (1884) ?Schön-Röschen aus der Hofemühle. Erzählung aus dem Leben? von G. Haymer!
- Paul Staberow, der später Mays Kolportageromane für Fischer bearbeitete, verfasste 1897 ?Elsa Die Tochter des Waffenschmieds? für Münchmeyer; seine ersten Kolportageromane hatte er bereits 1880 in Neusalza (Oeser) und 1881 in Dresden (bei Lohse) veröffentlicht.
- Dresden war im 19. Jahrhundert (vor Berlin) das Zentrum der deutschen Kolportageromanproduktion: von den dortigen 28 (!) Verlagen wurden im Verlauf von 70 Jahren fast 600 Romantitel produziert. Das ist mehr als ein Drittel der Gesamtproduktion im Deutschen Reich.
Dies alles sind längst bekannte Fakten ? sollten sie nicht für eine Chronik zu Karl May, der tausende Seiten Kolportageroman verfasste, von Belang sein?

Die Siglen zu den einzelnen Einträgen lassen nicht eindeutig erkennen, in welcher Publikation ein bestimmtes Faktum erstmals veröffentlicht wurde. Sie beziehen sich offensichtlich auf die jeweils neueste bzw. umfassendste Darstellung, aber das leider nicht systematisch. Das umfangreiche Material aus dem Nachlass ist nicht eigens ausgewiesen, allerdings kann man sich nicht vollständig darauf verlassen, dass dort, wo eine Sigle fehlt, neues Material aus dem Nachlass verwendet wurde. Denn gelegentlich fehlen die Siglen auch an den Stellen, an denen die aufgenommenen Einträge zwar schon publiziert sind, sich diese Veröffentlichung aber auf Material aus dem KMV oder dem Nachlass bezog ? hierin zeigt sich eine gewisse wissenschaftlich-bibliographische Schieflage, die zumindest für die betroffenenen Forscher, die sich u.U. bereits vor langer Zeit mit dem entsprechenden Material beschäftigt haben, ein gewisses Ärgernis birgt.


Großartiges Werkzeug

Doch damit genug des Meckerns; Mäkeleien sind ohnehin nur für Spezialisten relevant, und die Kritik am Vorwort tangiert die Großartigkeit und Wichtigkeit der eigentlichen Chronik nur peripher. Denn damit liegt nun ein Handwerkszeug vor, ohne das zukünftig niemand mehr auskommt, der sich ersthaft und professionell mit dem Autor Karl May auseinandersetzen will. Doch auch jeder Verehrer und Fan Mays wird reichlich auf seine Kosten kommen: komprimiert wie hier konnte man die wesentlichen Informationen bislang nirgends verzeichnet finden. Darüber hinaus beruht ein vermutlich unfreiwilliger aber keineswegs unwichtiger Nebeneffekt der Chronik auf ihrer Brauchbarkeit als Findmittel und Register zur gesammten Karl-May-Forschung der vergangenen 80 Jahre: Wer von nun an zu einem bestimmten Ereignis in Mays Leben Forschungsliteratur von Relevanz sucht, der braucht bloß die entsprechende Stelle der Chronik aufschlagen, um dort mit Hilfe der Siglen (die der sechste Band, das ?Begleitbuch?, bieten wird) relativ zuverlässig auf die richtige Spur gesetzt zu werden (mit den genannten Einschränkungen).

Das größte Vergnügen der vorliegenden Edition liegt sicher in der Lektüre der zahlreichen Dokumente und Quellen im Zusammenhang: sie bietet gewissermaßen eine komprimierte Wiederbegegnung mit länger nicht mehr Gelesenem - die Autobiographie, die Prozessschriften, die Marie-Hannes- und andere Leserberichte usw. -, zugleich die Entdeckungsmöglichkeit zahlreicher neuer Einzelheiten und sogar längerer May-Texte, vor allem in den zahlreichen, entweder erstmals im Zusammenhang oder überhaupt erstmals publizierten teils seitenlangen Briefzitaten. Die Karl-May-Chronik bietet die Wiederbegnung mit einst hochwillkommenen, dem Gedächtnis vielleicht lange entschwundenen Details; manche davon mögen gar für viele Interessenten seinerzeit an allzu entlegenen Stellen publiziert gewesen sein (etwa in den alten KM-Jahrbüchern, den Nachworten längst vergriffener KMG-Reprints, dem Begleitmaterial der Fehsenfeld-Nachrucke, so manchem niemals recht zur Kenntnis genommenen KMG-Sonderheft, dem Begleitmaterial diverser Kongresse, etwa in Leipzig, Luzern oder Freiburg usw. ...), dass sie nun überhaupt das erste Mal recht zur Kenntnis genommen werden!

Mein persönliches Lieblingsdokument in den ersten beiden Bänden der Chronik ist Mays zweiseitiger Brief an Fehsenfeld vom 25. Juli 1901, in dem er auf eine seltene Weise souverän, intelligent und vor allem zutreffend auf einige seiner Kritiker reagiert. Im ersten Teil dieses Briefes schildert May konzis und selbstbewusst ? dabei ohne alle Arroganz, was nicht häufig ist - das pädagogische Programm seiner Jugendschriften für Spemann, im zweiten Teil setzt er sich mit der Medien- bzw. Lektürewirkung auf Jugendliche und der Verantwortung der Eltern auseinander. Diesen zweiten Teil könnte sich so mancher etwa unserer heutigen Medien- (sprich: Videospiel-)kritiker, zwecks dauerhaftem Erkenntnisgewinn, hinter den Spiegel stecken: ?Schlechte Lectüre hat es stets gegeben und wird es immer geben; die Erziehung hat da streng zu unterscheiden, und wenn sie das nicht thut, so haben die Folgen nicht auf diese Lectüre, sondern eben auf Diejenigen zu fallen, welche ihren Kindern solches Gift gestatteten!? (II 481)
Hätte May sich stets so gewandt, sachkundig und gelassen mit seinen Kritikern auseinandergesetzt wie in diesem Brief - vor allem mit Mamroth, Cardauns & Co., die ja zunächst vollkommen Zutreffendes anzumerken hatten ? dann wäre ihm wohl ein Großteil der Verdrießlichkeiten seines letzten Lebensjahrzehnts erspart geblieben.
Hamdullilah, die Karl-May-Chronik ist da!

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Dieser Beitrag von Andreas Graf wurde zuerst in den "Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft", Heft 146, veröffentlicht. Er bezieht sich auf Band 1 und 2 der Chronik.


 
Auflage: 1 (aktuell)
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